Die Urbs Gregors des Großen

Ein Papst, eine Stadt

Jacopo_Zucchi-The_Procession.jpg
02. Juli 2020

Nahezu hundert Päpste wurden in Rom geboren, vor allem im ersten Jahrtausend. Der Jüngste von ihnen ist uns zeitlich allerdings recht nah, es handelt sich um Pius XII., der 1958 in Castel Gandolfo verstarb. Gewiss eine große Persönlichkeit, ebenso wie es bereits andere aus den Reihen der »doppelt« römischen Päpste gewesen waren. Aber der größte von allen war römisch-christlich wie kein anderer, und daran lässt sich schwerlich zweifeln.

Denn hier ist die Rede von Gregor I. (540-604), dem zweiten Papst, der nach dem 440 verstorbenen Leo I. mit dem Titel »der Große« geehrt wurde, und vor Johannes Paul II., dem dritten »Großen« der Kirchengeschichte, dessen Geburtstag sich dieses Jahr zum hundertsten Mal jährt. Papst Gregors wurde vor nicht allzu langer Zeit gedacht, im Jahr 2004, nur dass es sich dabei nicht um seinen 100., sondern um seinen 1400. Todestag handelte.

Insgesamt betrachtet war das, wie es in diesen Fällen (wenn auch nicht immer) zu geschehen pflegt, eine günstige Gelegenheit, die Elemente zu feiern und sie auch kritisch Revue passieren zu lassen, die die Größe des römischen Papstes Gregor I. ausmachen.

Diese sind so geartet und so zahlreich, dass man, selbst wenn man sie nur zusammenfassen wollte, weitschweifig werden müsste. Von zierlicher Gestalt und von der Askese gezeichnet (vgl. José de Riberas in der Renaissance entstandenes meisterhaftes Gemälde, auf dem Gregor als der alte Mönch dargestellt ist, der er war, wiewohl er ins päpstliche Rot gekleidet ist), konzentrierte dieser Sohn der römischen Oberschicht, der der gens Anicia entstammte und die beste klassische Erziehung genossen hatte, die allerdings jener der Vergangenheit längst nicht mehr das Wasser reichen konnte, in Balance auf der steilen Gratwanderung zwischen Spätantike und Hochmittelalter in seinen dünnen Händen und dem Geist eines Giganten eine Energie, Klarsicht und Entschlossenheit, die nach wie vor in Erstaunen versetzen. Er begann die Ämterlaufbahn (cursus honorum) als Praefectus Urbi, brach sie da dann aber ab, und die Geschichte erweist ihm dafür Dank. Die Begegnung mit den Lehren des heiligen Benedikt krempelte sein Leben um, er bekehrte sich zum Mönchtum, und sein erstes historisches Verdienst besteht darin, die benediktinische Kultur in Rom – und als Papst dann in ganz Europa – eingeführt zu haben. Indessen war er, bevor er Papst wurde, als Diplomat in Konstantinopel gewesen, wo er die schwierige Kunst erlernte, an mehreren Tischen gleichzeitig zu spielen, von denen einer riskanter war als der andere: von den Byzantinern bis zu dem kapriziösen Kaiser Maurikios, von den Goten bis zu den Vandalen, von den Langobarden bis hin zum anarchischen römischen Adel. Er legte die Grundlagen für die Idee von Europa, entschied sich kategorisch für den Westen (man denke etwa an die Evangelisierung Britanniens), bekehrte die sogenannten Barbaren und legte Gothien und Romania zusammen und erfand damit das Mittelalter. Und inmitten seiner zahlreichen Verpflichtungen fand er Zeit dafür, den Gregorianischen Choral einzuführen und Meisterwerke wie die Moralia in Job und die Regola Pastoralis zu schreiben, die ihn nach allgemeinem Konsens unter die Großen der lateinischen Patristik versetzten, Seite an Seite mit Hieronymus, Ambrosius und Augustinus.

Aber hier wollen wir bei einem Aspekt Gregors verweilen, der in einem gewissen Sinne, sozusagen ikonisch, alle repräsentiert, und zwar seine tiefe, vollkommene Identifizierung mit Rom. Der Urbs der Klassik und des Christentums, der Cäsaren und der Päpste, des Consul Dei, wie dieser große Papst genannt wurde, und des Servus servorum Dei, wie er sich selbst bezeichnete.

Eine so starke Identifizierung, dass eine Rekonstruktion des menschlichen, geistlichen, politischen, kirchlichen Weges Gregors im zeitgenössischen Rom damit gleichzusetzen ist, unter Abweichung vom Vokabular der Touristen (absit iniuria verbo) eine thematische Route einzuschlagen, die von allerhöchstem Interesse ist.

Fangen wir also da an, wo alle anfangen: bei der Geburt. Der Ort, an dem Gregor das Licht der Welt erblickte, befindet sich einer ehrwürdigen Tradition zufolge am Ort des aus dem 18. Jahrhundert stammenden Kirchleins San Gregorio della  Divina Pietà, auch San Gregorietto ai Quattro Capi genannt, an der Stelle, wo einst die domus der Anicier stand. Ein Rokoko-Parallepipedon aus ockergelbem Stein, isoliert wie ein Schrank zwischen dem Monte Savello und dem Lungotevere de’ Cenci gelegen. Niemand schenkt ihm Aufmerksamkeit, schon gar nicht die völlig erledigten Leute, die in einem nicht enden wollenden Strom den Bussen an der gegenüberliegenden Haltestelle entsteigen; und dabei ist es höchst geschichtsträchtig, sowohl des Gedenkens an Gregor wegen als auch als ehemaliger Sitz einer Bruderschaft, die sich der Unterstützung »verarmter ehrwürdiger und heruntergekommener Familien«, des verarmten Adels, verschrieben hatte, wie auf dem Schlitz des Almosenkastens bis heute zu lesen steht. Und das ist noch nicht alles. Über dem Eingangsportal steht ein surreales hebräisch-lateinisches Jesaja-Zitat, das gegen die Juden gerichtet war, die dazu verpflichtet waren, dort ab und zu die Predigten für die Gläubigen anzuhören. Zum Glück liegt das weit zurück in der Vergangenheit, und wurde abgeschafft, lange bevor der dritte »Große«, der Wojtyla-Papst, die römische Synagoge besuchte und in den Juden die »bevorzugten und älteren Brüder« [der Christen] grüßte.

Steuern wir nach Osten und kommen zu etwas, das es gar nicht mehr gibt! Die Rede ist von der Velia, der niedrigen Anhöhe zwischen Palatin, Fagutal und Oppius, die in den Zwanzigerjahren abgetragen wurde, um die Via dei Fori Imperiali zu verbreitern. Dort soll sich, gewissen Epitaphien zufolge, die Praefectura Urbi befunden haben, das Amt, das Gregor bis ungefähr 575 n. Chr. leitete, als er 35 Jahre alt war. Ein hohes Amt, ein Mittelding zwischen Präfekt, Bürgermeister und Quästor, in dem Iunius Rusticus, als er es ausübte, 165 den Philosophen Justinus einem Prozess unterzogen und zum Martyrium verurteilt hatte. Vielleicht trat der künftige Papst, als er das herausfand, auch deshalb als Praefectus zurück. Der hauptsächliche Beweggrund aber war, dass er sich zur benediktinischen Lebensweise bekehrte und eines der Wunder Roms gründete: wenn wir die Augen schließen, können wir uns zu Füßen des Celio-Hügels, an der zur Via Appia hin gelegenen Seite, am Hang die luxuriöse Vorstadtvilla (Villa suburbana) der Anicier vorstellen. Der neugebackene Mönch Gregor entfernt allen Luxus, gibt alles den Armen und gründet dort die Benediktinerabtei Sant’Andrea, deren Abt er dann wird. Heute erhebt sich an jener Stelle die wunderschöne Kirche San Gregorio al Celio, und im angrenzenden Kloster sind die Söhne des heiligen Benedikt durch die Schwestern Mutter Teresas »ersetzt« worden, die genau wie der Mönchspapst beten und den Armen beistehen. Auf der gegenüberliegenden Seite, an der Clivus Scauri [genannten antiken römischen Straße], die zur [Piazza della] Navicella hochführt, stehen die drei berühmten Oratorien Sant’Andrea, Santa Silvia und Santa Barbara. Einzigartige Gebäude, die auf Gregor und seine Mutter Silvia zurückgehen und von ihrem dem Gebet und der Nächstenliebe geweihten Leben zeugen.

Als Papst lebte er im Lateran. Während die Päpste vom 4. bis 14. Jahrhundert nämlich in der Lateranbasilika die Messe zelebrierten und dem Volke predigten, lebten sie im Patriarchatssitz (dem Patriarchio), der sich da befand, wo heute die Scala Santa steht, der aber weitaus größer war. Der geheimnisvolle sogenannte »Nicchione« [das »Triclinium Leoninum«] mit dem von [Ferdinando] Fuga restaurierten Mosaik, das vom Platz aus zu sehen ist, ist nichts anderes als die Apsis des riesigen Speisesaales des ersten Papstpalastes. In der Sancta Sanctorum der Scala Santa, der damaligen »Sixtinischen Kapelle«, wird eine wundertätige Christusikone aufbewahrt, die aus Gregors Zeit stammt und als Acheiropoíeton, als nicht von Menschenhand gemalt, gilt. Wahrscheinlich trug der Papst sie während der Pestepidemie des Jahres 590 in Prozession nach Sankt Peter, als der Überlieferung zufolge der Erzengel Michael gesehen wurde, als er auf der »Mole Adriana« [der heutigen Engelsburg] das Schwert in die Scheide zurücksteckte, als Zeichen dafür, dass die Epidemie zu Ende war.

An der Engelsburg befinden wir uns also an einem weiteren Ort des gregorianischen Roms. Für die letzte Etappe genügt es, die Schwelle des Petersdoms zu überschreiten, das Ende des linken [westlichen] Seitenschiffs zu erreichen und in die Cappella Clementina einzutreten.

Hier hängt über dem Altar zur rechten Hand ein Gemälde Gregors des Großen, der mit einem Griffel ein weißes Leintuch einschneidet, das auf wunderbare Weise blutbefleckt ist, da es mit Märtyrern in Berührung gekommen war. Seine sterblichen Überreste ruhen in Erwartung der Auferstehung unter dem Altar.

Von Mario Spinelli