Die architektonische Landschaft Roms ist nicht aus einem Guss. Sie spiegelt die wechselvolle Geschichte der Ewigen Stadt wieder. Unter städtebaulichem Gesichtspunkt präsentiert sich diese Geschichte gewissermaßen als eine Folge von Renaissancen.
Jede Renaissance bedeutete die Errichtung einer Reihe prägnanter Bauten, die sich zwar vom überkommenen Stadtbild inspirieren ließen, es aber grundlegend verwandelten. So etwa die Renaissance der Flavier-Kaiser im 2. Jahrhundert, die karolingische Renaissance im 9. Jahrhundert oder die eigentliche Renaissance im 15. Jahrhundert. Zu diesen Umbrüchen muss man auch die sogenannte »gregorianische Reform« im 11. Jahrhundert zählen. Nach einer längeren Zeit des Niedergangs hatte das Papsttum unter Gregor VII. (1073-1085) und Urban II. (1088-1099) wieder an Ansehen gewonnen, was in der Folge zur prächtigen Erneuerung des Stadtbildes – in Anknüpfung an das Christentum der Spätantike – führte. Rom wurde wieder einmal eine Stadt der Kirchen. Den Auftakt dazu stellte der Bau der kleinen romanischen Kirche Santa Maria in Cappella im südlichen Trastevere dar.
Etwas versteckt hinter dem Gesundheitsministerium finden wir am rechten Tiberufer, fast gegenüber von Santa Maria in Cosmedin, das kleine romanische Gotteshaus von Santa Maria in Cappella. Ihr heutiges bescheidenes Hinterhofdasein lässt kaum die prominente Lage erahnen, die die Kirche bei ihrer Erbauung im Jahr 1090 innehatte. Damals erhob sie sich am Nordrand des römischen Stadthafens Ripa Grande, dort wo die Gasse der Genueser Schiffergenossenschaften, die Via dei Genovesi, von Trastevere kommend geradewegs auf den Tiber zuläuft. Der Hafen hatte im Mittelalter eine große Bedeutung. Er war innerhalb der Stadtmauern Roms gelegen, was von nicht geringem Belang war in einer Zeit, wo Sarazenen und Piraten die Küsten Italiens unsicher machten. Der Unterlauf des Tiber war zudem im Mittelalter gut schiffbar, konnten doch sogar mittelgroße Segelschiffe, die günstigen Land- und Seewinde über dem unbebauten Vorland ausnutzend, bis zum südlichen Stadtrand gelangen. Diese Voraussetzungen sind heute wegen der Verlagerung und Versandung der Tibermündung sowie der zunehmenden Besiedelung nicht mehr gegeben.
Gleich beim Eintreten in die kleine Kirche erblickt der Besucher rechts eine Marmorplatte mit der Weiheinschrift, die Aufschluss gibt über die Entstehung dieses sakralen Baus. Es ist im Mittelalter nicht häufig der Fall und unterstreicht auch die Bedeutung des Gebäudes, dass an Ort und Stelle so ausführlich über die Weihe der Kirche berichtet wird. Dort heißt es nämlich: »Am 25. März des Jahres 1090 wurde diese Kirche der heiligen Maria, mit dem Namen ›zur Pinie‹, von den Bischöfen Ubaldus von Sabina und Johannes von Tusculum unter dem Pontifikat von Urban II. geweiht. In ihr befinden sich Reliquien vom Kleid der heiligen Jungfrau Maria, ferner Reliquien des Apostels Petrus, der Päpste Cornelius, Calixtus und Felix sowie der Märtyrer Hippolyt, Anastasius, Melix und Marmenia. Damasus hat diese Gabe für sein Seelenheil Christus dem Erlöser geschenkt.« Man nimmt an, dass eine fehlerhafte Lesart des Satzes »… ECCLESIA SCE MARIE QVE APPELLA(tur) AD PINEA(m)« – »… die Kirche der heiligen Maria, die ›zur Pinie‹ genannt wird« –, nämlich das QVE APPELLA, zu dem späteren Namen »Santa Maria in Cappella« geführt hat. Manche Historiker finden es allerdings plausibler, den Ausdruck »in Cappella« mit den »Cuppelle« in Verbindung zu bringen, den Wasserfässern, die in benachbarten Werkstätten hergestellt wurden. Das Wort »Pinea« hingegen, das auch in anderen zeitgenössischen Handschriften auftritt, ist offenbar eine topographische Bezeichnung. Es weist wahrscheinlich auf die Stelle im Tiber hin, wo noch im Mittelalter die Stümpfe der antiken Holzbrücke Pons Suplicius im Wasser zu sehen waren. Diese traditionsreiche Brücke, die schon in republikanischer Zeit entstanden und immer wieder erneuert worden war, wurde spätestens bei den Gotenkriegen im 6. Jahrhundert zerstört.
Auf der Inschrift findet sich schließlich das genaue Datum der Kirchweihe, der 25. März 1090, das Fest Mariä Verkündigung, das schon seit der Antike in Rom gefeiert wurde. Die Namen der beiden prominenten Bischöfe der suburbikarischen Diözesen Sabina und Tusculum (Frascati), die Aufzählung der bedeutenden Reliquien und das hohe liturgische Fest als Weihedatum weisen somit auf die besondere Stellung dieser Kirche hin.
Wenn wir nun in die Kirche eintreten, glauben wir uns in einer alten römischen Basilika en miniature zu befinden. Vor uns öffnet sich ein dreischiffiger Kirchenraum, die Seitenschiffe jeweils durch antike Säulen mit korinthischen Kapitellen vom Hauptschiff getrennt. Auf den Säulen ruhen Architrave, die die Mauern des erhöhten Mittelschiffs mit schlanken rundbogigen Fenstern tragen. Die Architrave erinnern an die Bauweise von Santa Maria Maggiore oder auch die der alten Petersbasilika, wogegen in anderen antiken Kirchen, wie in Sankt Paul vor den Mauern oder Santa Sabina, in »modernerer« Bauweise die Säulen durch Rundbögen überbrückt wurden. Der Kirchenraum schließt dann mit einer Rundapsis ab. Auch hier gibt es einen Unterschied zu den antiken Vorbildern. Während die antiken Basiliken meist mit einer geräumigen Apsis nach Westen abschlossen, finden wir in Santa Maria in Cappella eine schmale geostete Apsis vor.
Offenbar gab es kein früheres Sakralgebäude am Ort von Santa Maria in Cappella, was Grabungen im Kircheninneren gezeigt haben. In antiker Zeit befanden sich hier Lagerräume und Getreidespeicher, die im Laufe der Zeit durch kriegerische Ereignisse zerstört wurden.
Das interessanteste Stück der Ausstattung der Kirche ist zweifellos der würfelförmige Altarblock aus Marmor mit dem Relief eines Lammes mit Kreuzstab auf der Stirnseite. Bei einer Restaurierung vor einigen Jahren entdeckte man ein von oben in den Altar eingelassenes Reliquiar, in dem sich zwei kleine versiegelte Tonkrüge befanden. In dem einen Gefäß waren Reliquien des Papstes Cornelius, des Apostels Petrus sowie der Märtyrer Anastasius und Melix ausgezeichnet, im anderen die des heiligen Hippolyt und der Märtyrerin Marmenia. Eben dieselben Heiligen werden auch in der Weiheinschrift erwähnt, was darauf schließen lässt, dass der Altar das gleiche Alter wie die Kirche besitzt. Der heilige Hippolyt ist übrigens auch der Patron der suburbikarischen Diözese Porto, die gleich an den Hafen anschloss, so dass die Kirche durch Petrus und Cornelius als die römischen Patrone wie auch durch Hippolyt, den Patron Portos, sozusagen doppelt geschützt war.
Ins Auge fällt dem Besucher jedenfalls die Würfelform des Altars. In der Neuzeit hat man den Altar durch eine lange Altarplatte, die auf schlanken Säulenpaaren am Rande aufruhte, wieder auf »Normalform« gebracht, die Ausmaße eines Sarkophags, wie man sich die antiken Altäre vorstellte. Tatsächlich haben die frühen Christen die Eucharistie gelegentlich auf den Gräbern der Märtyrer, wie zum Beispiel in Sankt Paul vor den Mauern, gefeiert. In Anlehnung an diese Grabaltäre waren daher rechteckige, kastenförmige Altäre im Gebrauch.
Um die erste Jahrtausendwende wurden die Altäre kürzer; sie nahmen gelegentlich sogar die Form eines Würfels an. Das Märtyrergrab als Unterlage des Messopfers schwand aus dem Bewusstsein, und an seine Stelle trat der Opferstein in Bezug auf die Opfer des Alten Testaments, die Vorbild auch für das Opfer Christi sind. So finden wir »Würfel«-Altäre in vielen Kirchenneubauten des 11. und 12. Jahrhunderts, nicht zuletzt in Santa Maria in Vescovio, der alten Bischofskirche der Diözese Sabina, die ebenfalls von Bischof Ubaldus geweiht worden war. Aber auch die Buchmalerei jener Zeit zeigt meist diese Altäre in Würfelform, und nicht zuletzt die Darstellungen des Opfers Isaaks auf einem würfelförmigen Altar in den romanischen Freskenzyklen in Ceri oder Sant’Andrea in Valle bei Terni geben dazu Anhaltspunkte.
Die eigentliche »Provokation« für den Christen des ausgehenden 11. Jahrhunderts war aber die Abbildung des Lammes mit dem Kreuzstab, ein Sinnbild des Agnus Dei und des auferstandenen Christus. Seit der Trullanischen Synode von 691 war für die orthodoxe Welt die Darstellung Christi als Lamm Gottes verboten. In Rom gab es zwar seit frühester Zeit die sogenannten »Lämmerfriese« – zwölf Lämmer geschart um ein Lamm auf einem Berg –, aber das herausgehobene Lamm trug keinen Kreuzstab als Symbol der Auferstehung. Erst Papst Sergius I. (687-701) führte als Geste des Protestes gegen die Beschlüsse des Trullanums die Darstellung des Agnus Dei mit dem Kreuzstab auf dem Triumphbogen der Kirche Santi Cosma e Damiano ein. Allseits bekannt ist dann der endgültige Bruch zwischen der Christenheit des Ostens und des Westens im Jahre 1054. Es gab noch einen Versuch der Verständigung bei einer Synode in Bari 1089, doch dieses Bemühen scheiterte. So war das Agnus Dei gleichsam ein Glaubensbekenntnis, das dem aus dem Osten mit dem Schiff anreisenden Pilger deutlich machte, welche Konfession in Rom das Sagen hatte.
Etwa zwei Jahrzehnte nach der Kirchweihe, so entnimmt man zeitgenössischen Dokumenten, wurde noch ein zweiter Altar in Santa Maria in Cappella konsekriert. Welche genaue Funktion die Kirche damals hatte, ist nicht mehr eindeutig zu ermitteln. Die Lage am Stadtrand und die Nähe zum Hafen lassen eine Aufgabe vermuten, die mit der Schifffahrt oder dem Pilgerwesen zu tun hatte, lag die Kirche doch in der Verlängerung der Via della Lungara, der alten Pilgerstraße zum Petersdom. Jedenfalls geriet Santa Maria in Cappella relativ schnell in Vergessenheit und wurde Ende des 14. Jahrhunderts Teil eines mittelalterlichen Spitals der Familie Ponziani, der Schwiegereltern der heiligen Francesca Romana.
Der erste Krankensaal wurde übrigens im rechten Seitenschiff der Kirche eingerichtet. Aber auch diese Einrichtung wurde etwa hundert Jahre später aufgegeben und die Kirche verfiel. Erst im 18. Jahrhundert erwarb Donna Olimpia Maidalchini-Pamphilj die Gebäude mit dem umliegenden Brachland und richtete neben einer kleinen Sommerresidenz am Tiberufer ein Hospiz für Pilger ein, in das die Kirche integriert wurde. Heute befindet sich in diesem Komplex ein Altersheim.
Der kleine interessante Kirchenbau hatte eine nur kurze Glanzzeit. Dann trat er in den Schatten der prächtigen Neubauten des 12. Jahrhunderts: Santa Maria in Trastevere und San Crisogono, San Clemente und Santi Quattro Coronati, die neuen Perlen im Kranz der Kirchen Roms.
Prälat Winfried König