Zu Beginn der Frühmesse in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses Santa Marta am Donnerstag, 7. Mai, betete Papst Franziskus erneut für die Künstler, die uns die Schönheit vermitteln, ohne die man das Evangelium nicht verstehen kann: »Gestern habe ich einen Brief von einer Gruppe von Künstlern erhalten: Sie haben sich dafür bedankt, dass wir für sie gebetet haben. Ich möchte den Herrn bitten, sie zu segnen, denn die Künstler lassen uns verstehen, was die Schönheit ist, und ohne das Schöne kann man das Evangelium nicht verstehen. Wir wollen noch einmal für die Künstler beten.«
In seiner Predigt legte der Papst den Schwerpunkt auf die Zugehörigkeit zum Volk Gottes, die für jeden Christen zentral ist. Ohne das Bewusstsein dieser Zugehörigkeit kann sich ein Elitebewusstsein einschleichen, das ein gefährlicher Irrweg ist:
Als Paulus eingeladen ist, in der Synagoge von Antiochia [in Pisidien] zu sprechen, um die neue Lehre zu erläutern, also um Jesus zu erläutern, Jesus zu verkündigen, beginnt er damit, dass er über die Heilsgeschichte spricht (vgl. Apg 13,13-21). Paulus stand auf und begann: »Der Gott dieses Volkes Israel hat unsere Väter erwählt und das Volk in der Fremde erhöht, im Land Ägypten« (V.17). Und er [erzählte] das ganze Heil, die Heilsgeschichte. Dasselbe tat Stephanus vor seinem Martyrium (vgl. Apg 7,1-54) und auch Paulus noch einmal. Dasselbe tut der Autor des Briefes an die Hebräer, als er die Geschichte Abrahams und »aller unserer Väter« erzählt (vgl. Hebr 11,1-39). Denselben Lobpreis haben wir heute gesprochen: »Von der Huld des Herrn will ich ewig singen, von Geschlecht zu Geschlecht mit meinem Mund deine Treue verkünden« (Ps 89,2). Wir haben die Geschichte Davids gepriesen: »Ich habe David, meinen Knecht, gefunden« (V. 21). Dasselbe tun Matthäus (vgl. Mt 1,1-14) und Lukas (vgl. Lk 3,23-38): Wenn sie beginnen, von Jesus zu sprechen, greifen sie den Stammbaum Jesu auf.
Was ist hinter Jesus? Da ist eine Geschichte. Eine Geschichte der Gnade, eine Geschichte der Erwählung, eine Geschichte der Verheißung. Der Herr hat Abraham erwählt und ist mit seinem Volk gezogen. Zu Beginn der Messe, im Eröffnungsvers, haben wir gesprochen: »Gott, du zogest vor deinem Volke einher; wohnend in ihrer Mitte, bahntest du ihnen den Weg.« Es gibt eine Geschichte Gottes mit seinem Volk. Und darum beginnt Paulus, als man ihn bittet, den Grund für den Glauben an Jesus Christus zu erläutern, nicht bei Jesus Christus: Er beginnt bei der Geschichte. Das Christentum ist eine Lehre, ja, aber nicht nur. Es sind nicht nur die Dinge, die wir glauben: Es ist eine Geschichte, die diese Lehre trägt. Sie ist die Verheißung Gottes, der Bund Gottes, die Tatsache, von Gott erwählt zu sein.
Das Christentum ist nicht nur eine Ethik. Ja, es ist wahr, es hat moralische Grundsätze, aber Christ ist man nicht nur mit einer ethischen Sichtweise. Es ist mehr. Das Christentum ist keine »Elite« von Menschen, die für die Wahrheit erwählt worden sind. Dieses Elitebewusstsein, das dann in der Kirche fortschreitet, nicht wahr? Zum Beispiel, ich komme aus jenem Institut, ich gehöre zu dieser Bewegung, die besser ist als deine, zu diesem und jenem… Das ist Elitebewusstsein. Nein, das Christentum ist nicht das: Das Christentum ist Zugehörigkeit zu einem Volk, einem von Gott frei erwählten Volk. Wenn wir nicht dieses Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem Volk haben, dann sind wir »ideologische Christen«, mit einer ganz kleinen Lehre, die Wahrheiten darlegt, mit einer Ethik, mit einer Moral – das ist gut – oder mit einer Elite. Wir fühlen uns als Teil einer von Gott auserwählten Gruppe: die Christen. Die anderen werden in die Hölle kommen, oder wenn sie gerettet werden, dann aufgrund der Barmherzigkeit Gottes, aber sie sind Verworfene… Und so weiter. Wenn wir nicht das Bewusstsein haben, zu einem Volk zu gehören, sind wir keine wahren Christen.
Daher erläutert Paulus Jesus von Anfang an, von der Zughörigkeit zu einem Volk an. Und oft, oft geraten wir in diese Parteilichkeiten, seien sie dogmatisch, moralisch oder elitär, nicht wahr? Das Elitebewusstsein ist es, was sehr schädlich für uns ist. Und wir verlieren das Bewusstsein der Zugehörigkeit zum heiligen gläubigen Volk Gottes, das Gott in Abraham erwählt hat und dem er die Verheißung geschenkt hat, die große Verheißung, Jesus, und das er mit Hoffnung vorangehen ließ und mit dem er einen Bund geschlossen hat. Das Bewusstsein, ein Volk zu sei.
Mich beeindruckt immer jene Stelle im Deuteronomium, ich glaube sie steht im 26. Kapitel, wo es heißt: »Einmal im Jahr, wenn du dem Herrn die Gaben, die Erstlingsfrüchte darbringst, und wenn dein Sohn dich fragen wird: ›Aber Vater, warum tust du das?‹, dann sollst du nicht zu ihm sagen: ›Weil Gott es geboten hat‹, nein: ›Wir waren ein Volk, wir waren in dieser Lage, und der Herr hat uns befreit…‹« (vgl. Dtn 26,1-11). Die Geschichte erzählen, wie Paulus es hier getan hat. Die Geschichte unseres Heils weitergeben. Ebenfalls im Deuteronomium rät der Herr: »Wenn du in das Land kommst, das du nicht erobert hast, das ich erobert habe, und von den Früchten essen wirst, die du nicht gepflanzt hast, und in den Häusern wohnen wirst, die du nicht erbaut hast, wenn du die Gabe darbringst« (vgl. Dtn 26,1). Dort heißt es in dem berühmten »deuteronomischen Credo«: »Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten« (Dtn 26,5). »Es blieb 400 Jahre lang dort, dann hat der Herr es befreit, hat es herausgeführt…« Es preist die Geschichte, die Erinnerung eines Volkes, ein Volk zu sein.
In dieser Geschichte des Volkes Gottes, bis hin zu Jesus Christus, gab es Heilige, Sünder und viele gewöhnliche Menschen, gute Menschen, mit Tugenden und Sünden, alle. Die berühmte »Menschenmenge«, die Jesus nachfolgte, die das Gespür der Zugehörigkeit zu einem Volk hatte. Ein angeblicher Christ, der nicht dieses Gespür hat, ist kein wahrer Christ; er ist etwas sonderbar und fühlt sich gerechtfertigt ohne das Volk. Zugehörigkeit zu einem Volk, sich an das Volk Gottes erinnern. Und das lehren Paulus, Stephanus, noch einmal Paulus, die Apostel… Und der Rat des Autors des Briefes an die Hebräer: »Denkt an eure Vorfahren« (vgl. Hebr 11,2), also an jene, die uns auf diesem Weg des Heils vorausgegangen sind.
Wenn jemand mich fragen würde: »Welcher ist für Sie der Irrweg der Christen heute und zu allen Zeiten? Was wäre für Sie der gefährlichste Irrweg der Christen?«, dann würde ich zweifellos sagen: die fehlende Erinnerung der Zugehörigkeit zu einem Volk. Wenn das fehlt, kommen Dogmatismen, Moralismen, Ethizismen, elitäre Bewegungen. Es fehlt das Volk. Ein Volk, das immer aus Sündern besteht, wir alle sind es, das aber im Allgemeinen nicht irrt, das das Gespür hat, das auserwählte Volk zu sein, das einer Verheißung nachfolgt und das einen Bund geschlossen hat, den es vielleicht nicht erfüllt, den es aber kennt.
Bitten wir den Herrn um dieses Bewusstsein, ein Volk zu sein, das die Gottesmutter in ihrem »Magnifikat« so wunderbar gepriesen hat (vgl. Lk 1,46-56), das Zacharias so schön in seinem »Benedictus« gepriesen hat (vgl. V. 67-79): Lobpreise, die wir jeden Tag beten, am Morgen und am Abend. Das Bewusstsein, ein Volk zu sein: Wir sind das heilige gläubige Gottesvolk, das, wie das Erste und dann auch das Zweite Vatikanische Konzil sagt, in seiner Gesamtheit das Gespür des Glaubens hat und das in dieser Weise zu glauben unfehlbar ist.
Der Papst lud alle, die die sakramentale Kommunion nicht empfangen können, mit dem folgenden Gebet zur geistlichen Kommunion ein: »Zu deinen Füßen, o mein Jesus, werfe ich mich nieder und bringe Dir die Reue meines zerknirschten Herzens dar, das sich mit seinem Nichts in Deiner heiligen Gegenwart verdemütigt. Ich bete Dich an im Sakrament Deiner Liebe, der unfassbaren Eucharistie. Ich sehne mich danach, Dich in der armen Wohnstatt meines Herzens zu empfangen. Während ich das Glück der sakramentalen Kommunion erwarte, möchte ich Dich im Geist besitzen. Komm zu mir, o mein Jesus, da ich zu Dir komme! Die Liebe umfange mein ganzes Sein im Leben und im Tod. Ich glaube an Dich, ich hoffe auf Dich, ich liebe Dich. Amen.«
Nach einer Zeit der Anbetung und dem eucharistischen Segen wurde in der Kapelle des Gästehauses Santa Marta, die dem Heiligen Geist geweiht ist, die marianische Antiphon Regina Caeli angestimmt.