Vor 100 Jahren veröffentlichte Papst Benedikt XV. die erste Friedensenzyklika

Der Friede als Gabe und Aufgabe

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15. Mai 2020

»Ich wollte mich Benedikt XVI. nennen, weil ich geistig an den ehrwürdigen Papst Benedikt XV. anknüpfen wollte, der die Kirche in der stürmischen Zeit des Ersten Weltkriegs geleitet hat. Er war ein mutiger und wahrer Prophet des Friedens und bemühte sich mit großer Tapferkeit zuerst darum, das Drama des Krieges zu vermeiden, und später dessen unheilvolle Auswirkungen einzudämmen.« Mit diesen Worten begründete Joseph Ratzinger in der Generalaudienz am 27. April 2005 die Wahl seines Papstnamens.

Der 1854 als Sohn eines Genueser Grafengeschlechts geborene Giacomo Della Chiesa, der nach einer diplomatischen Ausbildung im vatikanischen Staatssekretariat gearbeitet und sich unter Pius X. als Erzbischof von Bologna für höhere Aufgaben empfohlen hatte, wurde wenige Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs zum Papst gewählt. Von einem engen Mitarbeiter Kardinal Rampollas, der als Staatssekretär unter Leo XIII. einen auf Versöhnung und Ausgleich zwischen den Staaten ausgerichteten Politikstil geprägt hatte, erwartete man einen wirksamen Beitrag zur Beendigung des Konfliktes.

Der Krieg überschattete in der Tat den ganzen Pontifikat Benedikts XV. Unermüdlich setzte er sich dafür ein, »dessen unheilvolle Auswirkungen einzudämmen«. Dabei lassen sich vier Prioritäten erkennen:

1. In den großen europäischen Kriegen der Neuzeit waren die Päpste als Souverän des Kirchenstaates immer auch Partei gewesen und in die europäischen Konflikte involviert. Der Heilige Stuhl wahrte dagegen in den Jahren 1914 bis 1918 eine strenge Neutralität. Wiederholte Versuche, den Papst zu Verurteilungen von echtem oder vermeintlichem Unrecht der Kriegsgegner zu bewegen, liefen ins Leere.

2. Der Krieg wurde von Benedikt XV. entschieden abgelehnt und mit klaren Worten verurteilt (»unnützes Blutvergießen«, »Selbstmord des zivilisierten Europa«).

3. Anders als in allen bisherigen Kriegen der Neuzeit entfaltete der Vatikan eine umfassende humanitäre Aktivität, so dass Zeitgenossen geradezu von einem »zweiten Roten Kreuz« sprachen: So wurde der Austausch von Verwundeten vermittelt, und im Staatsekretariat wurde ein Vermisstensuchdienst organisiert. Mit einem persönlichen Brief an Sultan Mohammed V., das religiöse und politische Oberhaupt des Osmanischen Reiches, protestierte der Pontifex 1917 gegen den Genozid an den Armeniern.

4. Anknüpfend an die internationale Vermittlertätigkeit des Heiligen Stuhls unter Leo XIII. suchte auch Benedikt XV., den Krieg zu begrenzen beziehungsweise zu seiner Beendigung beizutragen. So wurde der Erste Weltkrieg gewissermaßen zum Testfall für eine neue Außenpolitik. Im ersten Kriegswinter ließ er auf diplomatischem Weg ausloten, ob nicht Italien durch einseitige österreichische Konzessionen aus dem Krieg herausgehalten werden könne. Dieser Versuch scheiterte, nicht zuletzt, weil die Entente den Italienern im Londoner Vertrag weitreichende Zusagen machte. Italien ließ sich zugleich zusichern, dass der Heilige Stuhl nicht als Friedensvermittler akzeptiert werde und von einer zukünftigen Friedenskonferenz ausgeschlossen bleibe. Dahinter stand die Sorge, die »Römische Frage« (also die Frage der Souveränität des Papstes) könne neu aufgerollt werden. Bekannt ist die Friedensnote Dès le début, die der Pontifex am 1. August 1917 an die Staatsführungen der kriegführenden Länder richtete. Weniger bekannt ist, dass ihr vom Münchner Nuntius Eugenio Pacelli geführte Sondierungen bei den Mittelmächten vorausgingen, um deren Kriegsziele und Friedensbedingungen zu erfahren. Die Friedensnote schlägt einen Frieden ohne Annexionen und Reparationen, die Freiheit der Seewege, die Rückgabe der Kolonien, eine allgemeine Abrüstung und die Regelung strittiger territorialer Fragen mithilfe des Völkerrechts sowie durch internationale Schiedsgerichtsbarkeit vor.

Nach dem Krieg setzte der Papst sein humanitäres Engagement fort. Organisiert wurden Lebensmittelhilfe und medizinische Versorgung für Kinder in den am meisten unter den Kriegsfolgen leidenden Gebieten, etwa für Waisenhäuser in Wien. In den USA ließ er Sammlungen durchführen und scheute dabei nicht die Zusammenarbeit mit nicht-katholischen Organisationen.

Vor 100 Jahren, am 23. Mai 1920, veröffentlichte Benedikt XV. die Friedensenzyklika Pacem Dei munus. Sie stellt in gewissem Sinn die Summe seiner Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre dar. Es handelt sich um das erste päpstliche Lehrschreiben, das ausschließlich dem Thema Frieden gewidmet ist. Hier konnte der Papst seine eigenen Bemühungen während des Krieges zusammenfassen: »Mit inständigen Bitten, wiederholten Ermahnungen und Vorschlägen zur Wiederversöhnung der Völker haben Wir alles versucht, um mit Gottes Hilfe den Menschen den Weg zu bahnen zu einem gerechten, ehrenvollen und dauerhaften Frieden. Inzwischen haben Wir Uns in väterlicher Liebe tatkräftig bemüht, den schweren Leiden und Drangsalen jeder Art, die das grausame Völkerringen mit sich brachte, doch einigermaßen Linderung zu verschaffen.«

Zwar war durch die in den Pariser Vororten ausgehandelten Verträge der Krieg offiziell beendet worden, doch die zugrundeliegenden Konflikte waren damit aus päpstlicher Sicht noch nicht aus der Welt geschafft. Benedikt XV. war skeptisch gegenüber der Friedensordnung von Versailles, da sie eine Demütigung der Besiegten bedeute und den Samen zu neuen Konflikten in sich trage. Er war überzeugt, dass es »keinen lebensfähigen Friedensvertrag geben könne, solange nicht Hass und Feindschaft auf Grund einer Wiederversöhnung im Geiste der gegenseitigen Liebe« besiegt würden. Wahrer Friede müsse auf einer Versöhnung der Gegner und auf einer Rückkehr zu den christlichen Geboten gründen. Hier sieht er die Christen – und besonders die Katholiken – in der Pflicht, wie dies schon die Eingangsworte der Enzyklika – Pacem Dei munus – deutlich machen: Der Friede ist zugleich Gottes Gabe und Aufgabe (munus kann beides bedeuten). Umgekehrt war der Krieg aus seiner Sicht auch ein Versagen der Gläubigen gewesen, hatten sich doch die Katholiken in den kriegführenden Staaten nicht zuerst als solche, sondern als Belgier, Deutsche, Österreicher, Franzosen verstanden, wie er sich während des Krieges einem Freund anvertraute und damit die Grenzen seines Einflusses beklagte. Bereits in seiner Antrittsenzyklika Ad Beatissimi Apostolorum vom 1. November 1914 hatte er den Ausbruch des Krieges damit begründet, dass die Christen ihren Glauben nicht ernst genommen und andere Werte in den Vordergrund gestellt hätten.

Der Papst geht in der Enzyklika des Jahres 1920 noch einen Schritt weiter: Was für den einzelnen Menschen gilt, dass er nämlich erlittenes Unrecht vergeben muss, gilt auch für das Zusammenleben der Völker: »Diese Pflicht der Völker, Beleidigungen zu verzeihen und sich brüderlich zu versöhnen, ist somit ein heiliges Gebot Jesu Christi.« Das gilt nicht nur die Christen, sondern für alle Menschen. Aufgabe der Christen ist es, auf die Einheit des Menschengeschlechtes hinzuwirken. Dazu ist es vonnöten, dass die Priester die Gewissen der Gläubigen zur Feindes- und Nächstenliebe erziehen. Eine besondere Verantwortung haben nach seiner Auffassung auch die katholischen Schriftsteller und Redakteure, insofern sie die Meinungen der Menschen beeinflussen.

Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der den Pontifex um eine Audienz bat, um so seine Wertschätzung für dessen Friedenswirken zum Ausdruck zu bringen, erblickte wie dieser im Nationalismus die Wurzel allen Übels. Die Übereinstimmung der beiden Männer ging noch weiter: Ausdrücklich begrüßte Benedikt in Pacem Dei munus die Gründung des von Wilson initiierten Völkerbundes, der nach seiner Auffassung zu einer wirksamen Abrüstung beitragen und künftige Kriege verhindern könne. Zwischen Völkerbund und Kirche sah der Papst sogar eine gewisse Verwandtschaft, denn in der Kirche sei die Gemeinschaft der Völker und die Überwindung nationalen Denkens ja bereits vorgebildet (ähnlich sollte Paul VI. 45 Jahre später im Hinblick auf die Vereinten Nationen argumentieren). Wegen des ungeklärten staatsrechtlichen Status des Heiligen Stuhls kam aber ein Beitritt zum Völkerbund noch nicht in Frage.

Das außenpolitische Prestige des Heiligen Stuhls wurde durch die kluge Politik Benedikts XV. im Ersten Weltkrieg, durch sein humanitäres Engagement in der Nachkriegszeit und durch seine Friedensenzyklika weiter vermehrt. Der Vatikan nützte dies, um mit möglichst vielen Staaten Konkordate abzuschließen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen, darunter mit Bayern, Preußen, Lettland, Italien, Deutschland und den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Bei Della Chiesas Tod am 22. Januar 1922 stand die Kirche außenpolitisch deutlich besser da als bei seinem Amtsantritt.

Auch auf einem anderen Feld wirkte die päpstliche Friedensbotschaft fort, indem sie nämlich zum entscheidenden Impuls für die noch junge katholische Friedensbewegung wurde. Max Josef Metzger etwa, einer der Gründer des Friedensbundes Deutscher Katholiken, war stark durch die päpstlichen Äußerungen beeinflusst. Vom Friedensbund, dessen Arbeit von den Nationalsozialisten unterbunden wurde, führen direkte Linien zur Internationalen Katholischen Friedensbewegung Pax Christi. In Frankreich stützte sich der christlich-soziale Politiker Marc Sangnier auf die Kritik des Papstes am Frieden von Versailles und organisierte in den Jahren 1921 bis 1932 zwölf internationale Friedenskonferenzen, an denen auch Personen aus den ehemaligen Feindstaaten teilnahmen. Für eine Zusammenarbeit der Kirchen zur Sicherung des Friedens war die Zeit noch nicht reif, erst recht nicht für ein gemeinsames Friedenszeugnis der Religionen, dem erst Papst Johannes Paul II. durch die Einführung der Weltgebetstreffen in Assisi im Jahr 1986 eine Form geben sollte. Aber man kann durchaus sagen, dass die Weichen in diese Richtung mit der Friedensenzyklika Benedikts XV. gestellt waren, insofern dieser ausdrücklich alle Menschen in der Pflicht sah, im Geist der Versöhnung und der Nächstenliebe den Frieden in der Welt zu fördern.

Mit der weitblickenden Enzyklika Pacem Dei munus war ein Stil geprägt, eine Sprache gefunden in Bezug auf die kriegerischen Konflikte des 20. Jahrhunderts, in denen die Päpste unermüdlich zum Frieden mahnten. Besonders Pius XII. war in politischer Hinsicht stark durch Benedikt XV. geprägt, dessen Einsatz für den Frieden er als Mitarbeiter im Staatssekretariat und als Nuntius in München aus der Nähe erlebt hatte. Sechsmal bringt Della Chiesa in seinem Lehrschreiben den Frieden in Zusammenhang mit der Gerechtigkeit. Dass nur ein gerechter Frieden von Dauer sein kann, war auch ein zentraler Gedanke der Friedenslehre Pius’ XII. Nicht von ungefähr wählte der Pacelli-Papst das Wort Opus iustitiae pax – der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit – als Motto. Die folgenden Päpste bis hin zu Franziskus blieben diesem Gedanken verpflichtet. Friede ist mehr als ein Gleichgewicht des Schreckens oder ein bloßes Schweigen der Waffen – er verlangt vielmehr einen ehrlichen Ausgleich der Interessen und eine gerechte Teilhabe aller an den Ressourcen dieser Welt.

Prof. DDr. Jörg Ernesti,
Lehrstuhl für Mittlere und Neue Kirchengeschichte der Universität Augsburg