· Vatikanstadt ·

Zeit für das Sehen und das Hören in der Stille

epa08350033 A member of the Doctors of the World talks with a homeless woman during a distribution ...
10. April 2020

Wenn wir einen dunklen Raum betreten und nichts mehr sehen, dann kommt es vor, dass alle anderen Sinne automatisch geschärft werden, sie werden empfindlicher. So ist es in der heutigen Zeit, seit wir vor über einem Monat diesen dunklen Ort betreten haben, der als Pandemie bezeichnet wird. Wir müssen alle Sinne schärfen, die vorher vielleicht etwas betäubt waren. Immer wieder erinnert uns der Papst an einige dieser zu weckenden Sinne, insbesondere an zwei: Sehen und Hören.

Im Interview mit Austen Ivereigh hat Franziskus vor einigen Tagen ein Thema angesprochen, das ihm sehr am Herzen liegt, die Kontemplation: »In Bezug auf die Kontemplation möchte ich einen Aspekt hervorheben: es ist der Augenblick, den Armen zu sehen. Jesus sagt uns: ›Die Armen habt ihr immer bei euch.‹ Und das ist wahr. Das ist eine Wirklichkeit, die wir nicht leugnen können. Sie sind versteckt, weil die Armut sich schämt. […] Und weil die Armut beschämt macht, sehen wir sie nicht. Sie sind da, sie gehen an uns vorbei, aber wir sehen sie nicht. Sie sind Teil der Landschaft, sie sind Gegenstände. Die heilige Teresa von Kalkutta hat sie gesehen und beschlossen, einen Weg der Umkehr einzuschlagen. Die Armen zu sehen bedeutet, ihnen ihre Menschlichkeit zurückzugeben. Sie sind keine Gegenstände, sie sind kein Abfall, sie sind menschliche Personen.«

Manchmal reicht es zu sehen, um berührt zu werden und sich zu bekehren, aber man muss sehen können. In seinem Buch Der Duft Indiens, Reportage der Reise, die Pasolini 1961 gemeinsam mit Alberto Moravia und Dacia Maraini unternahm, erzählt der italienische Dichter und Regisseur von seiner Begegnung mit Mutter Teresa von Kalkutta. Er hatte von dieser Schwester gehört, die sich um die Ärmsten der Armen kümmerte, und beschloss, sie aufzusuchen, um sie kennenzulernen (seine Reisegefährten hatten aus Entsetzen über das Elend Reißaus genommen). In seinem Buch berichtet er nichts von seinem Gespräch mit dieser Ordensfrau, sondern beschreibt nur sein Staunen, denn noch nie »habe ich den Geist Christi so lebendig und sanftmütig erlebt: eine wunderbar gelungene Transplantation«, und sie schien ihm eine Frau zu sein, die »›sieht‹, wenn sie auf etwas blickt«.

Oft haben wir die Armen wahrgenommen, aber jetzt ist der Moment gekommen, sie wirklich zu sehen. Hier kommt das Organ des Sehvermögens ins Spiel, das nicht die Augen sind, wie Saint-Exupéry anmerkt. Letztendlich ist es eine Frage des Herzens, denn »das Programm Jesu ist das ›sehende Herz‹« (Deus Caritas est, 31), wie Benedikt XVI. es ausgedrückt hat.

Drei Jahre nach seiner Indienreise dreht Pasolini den dramatischen und eindrucksvollen Kurzfilm La ricotta (»Der Weichkäse«), der eine Szene der Kreuzabnahme Jesu enthält. Ihr geht eine Texttafel voraus mit von Pasolini auch selbst gesprochenen Worten: »Jedenfalls möchte ich hier erklären, dass […], die Geschichte der Passion, […], für mich das größte Ereignis darstellt, das sich je ereignet hat und dass die Bücher, die davon berichten, das Erhabenste sind, was je geschrieben wurde.« Im Angesicht von wahrer Schönheit bedarf es keiner Kommentare, es ist hilfreicher, still zu werden. »Die einzige wahre Lektion / ist das Betrachten«, dichtet der irische Poet Patrick Kavanagh. »Ohne Kommentare von Seiten des Philologen./ Betrachten und Hinsehen genügt,/ wenn es um Liebe geht.«

In diesen Tagen stellt uns die Liturgie die erhabenen Texte vor Augen, von denen Pasolini spricht, die Texte über Leiden, Tod und Auferstehung Jesu. Der Papst hat in der letzten Generalaudienz vor Ostern die Katholiken aufgefordert, in diesen Tagen das Kreuz und das Wort Gottes in der Hand, vor Augen und im Herzen zu haben. Auch hier bedarf es keiner Kommentare. Neben dem Sehen muss der Gehörsinn geschärft werden, und die einzige Art und Weise, dies zu tun, geschieht in der Stille. Im 1925 entstandenen Essay Der unsterbliche Mensch verweist Chesterton auf die Evangelien und merkt an: »Jeder Versuch, diese Geschichte zu ergänzen, schwächt sie ab. Viele wirklich talentierte und redegewandte Männer haben sich daran versucht, ebenso wie andere, die zu sentimental und auf bloß geschmacklose Weise rhetorisch waren. […] Die überwältigende Kraft der einfachen Worte des Evangeliums ist wie die Kraft eines Mühlsteins; und wer es mit ausreichender Einfachheit lesen kann, wird es empfinden, als würden Felsen über ihn hinwegrollen. Kritik sind nur Worte über Worte: Aber was nützen Worte über Worte wie diese?«

Am vergangenen 25. März bestand die Predigt des Heiligen Vaters über das Evangelium der Verkündigung aus einer erneuten Lektüre des gesamten Abschnitts des Lukasevangeliums, mit dem einzigen Hinweis, dass »die Quelle des Berichtes niemand anders als die Muttergottes sein kann«: »Der Evangelist Lukas konnte dies nur aus der Erzählung der Muttergottes wissen. Als wir Lukas hörten, haben wir der Gottesmutter zugehört, wie sie von diesem Geheimnis erzählte: Wir stehen vor dem Geheimnis. Vielleicht ist das Beste, was wir jetzt tun können, diesen Abschnitt nochmals zu lesen und daran zu denken, dass es die Muttergottes war, die dies erzählt hat.« Kein Kommentar, sondern nur das erneute, meditierende Lesen. Ein wunderbarer Mangel an Aktualität: In einer Zeit, in der wir alle, die wir im Internet und in sozialen Netzwerken unterwegs sind, ein Volk von Kommentatoren geworden sind, erinnert uns der Papst daran, dass das kostbarste Gut für den Menschen aus dem Zuhören und damit aus der Stille kommt. Auch wir Katholiken lassen uns durch diesen Mechanismus des Kommentierens beeinflussen, und so gehen wir oft in die heilige Messe, um die Predigt des Priesters zu hören, seinen Kommentar zum Evangelium, und kommentieren ihn dann. Dagegen erinnert uns der Papst daran, dass dies nicht das Wesentliche ist. Er hat das Evangelium noch einmal gelesen und am Ende nur gesagt: »Das ist das Geheimnis.« Wir stehen vor dem Geheimnis, und dann versuchen wir, den Blick zu schärfen, die Stille, das Zuhören – diese Dinge zählen, »wenn es um Liebe geht«.

Andrea Monda