Die Bergung des Leichnams Jesu vom Kreuz durch Josef aus Arimathäa wird in den Leidensgeschichten der Evangelien nur kurz erwähnt. Aus den ersten Jahrhunderten des Christentums sind allerdings nur wenige Kommentare und keine bildlichen Darstellungen des Kreuzes und der Passion Jesu bekannt; entsprechend blieb auch die kleine Szene der Kreuzabnahme, trotz der ihr eigenen Dramatik, weitgehend unbeachtet. Erst ab dem 9. Jahrhundert wurde das Motiv in der Kunst aufgegriffen, interessanterweise fast gleichzeitig sowohl in der byzantinischen als auch in der abendländischen Tradition, zunächst in zwei Buchmalereien, dann aber auf vielfältige Weise in Skulptur und Malerei. Wir können durchaus feststellen, dass die Kreuzabnahme bereits in der Romanik, etwa im 12. und 13. Jahrhundert, zu einem populären Andachtsbild heranreifte, bevor sie dann ab dem 14. Jahrhundert als Kreuzwegstation richtig bekannt wurde.
Bevor wir uns zwei herausragenden Beispielen der Kreuzabnahme des 13. Jahrhunderts in Mittelitalien zuwenden, wollen wir unser Augenmerk auf die historischen Quellen dieser Begebenheit richten. Die Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz wird im Markus-, im Lukas- und im Johannesevangelium explizit erwähnt. Zunächst einmal wird die Person genannt, die die Tat initiiert und ausgeführt hat, ein gewisser Josef aus Arimathäa, ein Mitglied des Hohen Rats und »ein guter und gerechter Mensch«, wie Lukas zu berichten weiß (23,50). Daneben tritt im Johannesevangelium noch Nikodemus auf, ein »führender Mann unter den Juden« (3,1), der Jesus früher einmal »bei Nacht« zu einem Gespräch aufgesucht hatte. Dieser wird aber in den synoptischen Evangelien nicht erwähnt.
Der Vorgang selbst, die »Abnagelung«, wie es in der griechischen Liturgie heißt, wird von den Evangelien unterschiedlich beschrieben: Während die Synoptiker Markus und Lukas schlicht vom »Abnehmen« sprechen, benutzt Johannes ein anderes, eher bildhaftes griechisches Wort: aírō , was so viel wie »heben«, »tragen«, »auf sich nehmen« bedeutet. Der Leichnam wird von Josef aus Arimathäa vom Kreuz gehoben (19,38), ein Detail, das in der Kunst immer wieder sehr ausdrucksstark dargestellt wurde.
Das Motiv der Kreuzabnahme tritt, wie gesagt, vermehrt in Mittelitalien ab dem 13. Jahrhundert auf, und zwar nicht nur in der Malerei und in Steinreliefs, sondern auch in einer Reihe von Skulpturen aus Holz, die wahrscheinlich bei Prozessionen und Mysterienspielen gezeigt wurden. Ein eindrückliches Beispiel dafür findet sich im Dom der Stadt Tivoli, etwa 30 Kilometer östlich von Rom. Die Figuren der Gottesmutter, des heiligen Johannes sowie der etwas kleineren Gestalten des Josef aus Arimathäa sowie des Nikodemus stehen einzeln um das Kreuz gruppiert, von dem sich Jesus mit offenen Armen niederbeugt. Wahrscheinlich stand Josef ursprünglich auf einer kleinen Leiter, und Nikodemus hielt ein Werkzeug in der Hand, wie das auf einer ähnlichen Skulptur in Vicopisano bei Pisa noch zu sehen ist.
Im Unterschied zu jener toskanischen Gruppe sticht der Christus von Tivoli aber durch seinen »lebendigen« Ausdruck hervor. Er scheint sich mit leicht geneigtem Haupt und ausgebreiteten Armen schützend und tröstend über die Anwesenden niederzubeugen. Maria und Johannes scheinen auf diese Geste mit ihren erhobenen Armen zu antworten, die auf den Größeren hinweisen und damit auch eine an den Betrachter gerichtete Einladung zum Gebet bedeuten. Diese Darstellung der sogenannten Deësis, der flehentlichen Bitte mit der Mutter zur Rechten und dem Lieblingsjünger Johannes zur Linken Christi, war seit frühester Zeit in Byzanz verbreitet und kam später auch in den Westen.
Außerdem ist der Gekreuzigte mit einer Krone gekrönt, ein Hinweis auf den König, der gekommen ist, um sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens aufzurichten. Dieser König sammelt die Menschen vor seinem Kreuz. Es scheint geradezu, als ob die Figuren des Josef und des Nikodemus zu ihm aufsteigen wollen – zu ihm, der ans Kreuz genagelt, dem Schächer die feierliche Verheißung gab: »Amen ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,43).
In einem gewissen Kontrast zum »lebendigen« Christus von Tivoli steht die außergewöhnliche Darstellung der Kreuzabnahme von Bominaco. Sie befindet sich in der kleinen Wallfahrtskirche San Pellegrino, die zu einem ehemaligen Klosterkomplex im einsamen Bergland der Abruzzen, etwa 30 Kilometer östlich von L’Aquila, gehört. Auch dieses Bild entstammt dem 13. Jahrhundert. Es wurde von einem unbekannten Künstler gemalt, dem sogenannten »Meister der Passion von Bominaco«, einem von mindestens drei Malern, die den kleinen Kirchenraum völlig mit Fresken ausgestalteten.
Das Kloster von Bominaco war gewissermaßen ein Begegnungsort zwischen dem Westen und dem Osten. Gegründet von der karolingischen Abtei Farfa mit ihren starken kulturellen Verbindungen zum damaligen Frankenreich war die Mönchsgemeinschaft von Bominaco doch auch mit der griechisch-byzantinischen Tradition der Adriaküste vertraut. So ergab sich eine wunderbare Synthese von byzantinischer und von abendländischer Frömmigkeit, die sich in den Fresken der kleinen Wallfahrtskirche niederschlug. Die kleine Szene der Kreuzabnahme ist hierbei besonders bemerkenswert, weil sie in mehrfacher Hinsicht aus dem klassischen Kanon der byzantinischen Malerei herausfällt. Wohl finden wir bekannte Motive wieder, wie die Deësis-Stellung der Muttergottes und des heiligen Johannes. Den auf der Leiter stehenden Josef von Arimathäa, der den gekrümmten Leichnam Jesu umfasst und auf sich nimmt, kennen wir auch aus der westlichen Tradition.
Maria und Johannes stehen aber nicht isoliert da, sondern nehmen den heiligen Leichnam gleichsam in Empfang und küssen die Wundmale in einer Gebärde der Ehrerbietung. Johannes berührt Jesus zudem mit verhüllten Händen, worin seine Stellung als sündiger Mensch vor dem Geheimnis der göttlichen Erlösung zum Ausdruck kommt. Bei Maria bedeckt die Hand des Toten das halbe Gesicht, so als würde der Sohn noch über den Tod hinaus seine Mutter trösten und ihre Tränen trocknen. Die beiden durchbohrten Hände schaffen auch so etwas wie eine Verbindung zwischen Maria und Johannes. Hier stiftet der Tod des Sohnes ein neues Liebesband zwischen den Zurückgebliebenen.
Eigenartig ist aber die zweite geheimnisvolle Frau in dem purpurnen Gewand, die den Gekreuzigten von hinten umfasst und sich mit trauernder Miene an ihn schmiegt. Sie überragt Jesus noch und geht deutlich über den Bildrand hinaus. Wer ist diese Frau, die auch bei anderen Bildern des Passionszyklus von Bominaco erscheint? Sie berührt in liebkosender Geste die Wange des Toten. Sie versucht gleichsam seinen letzten Atemzug einzuatmen. Wir werden an das Johannesevangelium erinnert, wo Jesus im Tod nicht seinen Geist »aushaucht«, wie bei den Synoptikern, sondern »den Geist weitergibt«. Das Wort, das hier (Joh 19,30) gebraucht wird, paradídōmi, bedeutet so viel wie »übermitteln«, »weitergeben«: Im Moment des Todes gibt Jesus seinen Geist weiter, er haucht der Frau das Leben ein. Diese Frau ist die Braut Christi, die Kirche. Im Johannesevangelium ist im Augenblick des Todes seine »Stunde« gekommen. Er ist zur Rechten des Vaters erhöht. Aber die Getreuen schmiegen sich an den leblosen Körper und bilden eine Gemeinschaft der Liebe. »Gott ist Liebe«, sagt Johannes, »und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm« (1 Joh 4,16). Die Kirche hält dieses Geheimnis fest und versucht es liebend immer tiefer zu erfassen.
Zwei ganz verschiedene Bilder der Kreuzabnahme haben wir hier betrachtet. Es sind zugleich zwei Deutungen des Erlösungsereignisses, eines mehr in der Tradition der synoptischen Evangelien, das Andere mehr der johanneischen Gedankenwelt verpflichtet. Doch beide machen deutlich, wie Jesu Leben, Leiden und Sterben von seiner Liebe zu den Menschen geprägt war, die über seinen Kreuzestod hinausgeht und in der Kirche – mit Maria und Johannes als Zeugen ihres Anfangs – weiterwirkt.
Prälat Winfried König