Da liegt er, mit dunklem Bart im bleichen Gesicht, im weißen Totenhemd auf dem mit einem Baldachin überspannten Himmelbett. Vor ihm steht der verzweifelt blickende Papst Leo X., hinter diesem viele bekümmert wirkende Herren. Raffael Sanzio (1483 bis 1520) aus Urbino in den italienischen Marken, der gefeierte Renaissancemaler, starb 37 Jahre jung an einem Karfreitag in seinem Haus in Rom – auch vor 500 Jahren ein viel zu frühes Sterbealter. Das geschah am 6. April, der auch sein Geburtstag war. Ein plötzliches geheimnisvolles Fieber, dessen Ursache bis heute ungeklärt ist, hatte den »Göttlichen«, wie er schon zu Lebzeiten genannt wurde, in der Blüte seines Schaffens dahingerafft.
Die oben beschriebene Szene ist dargestellt auf der Ölleinwand mit Raffaels Totenfeier des französischen Historienmalers Pierre-Nolasque Bergeret, 1806 gemalt, von Napoleon für Schloss Malmaison gekauft und jetzt in den Beständen eines Museums in Versailles zuhause. Von dort wurde sie nach Rom gebracht, zur Schau »Raffael 1520-1483« in die »Scuderie«, das wunderschöne Ausstellungsgebäude am Staatspräsidentenpalast mit herrlichem Blick über Rom. Ob der Medici-Papst wirklich ans Sterbebett des Malers eilte, ist zwar historisch nicht erwiesen. Doch Raffael-Experten vertreten, dass Leo X. sicherlich zumindest in Gedanken dort weilte. Schließlich verlor er mit dem so unerwartet Verstorbenen nicht nur den Freskenmaler seiner päpstlichen Gemächer, der sogenannten Raffael-Stanzen, sondern auch seinen vielversprechenden Architekten fürs Petersdom-Projekt und Präfekten für die Antike.
Die Raffael-Ausstellung in den »Scuderie« verläuft chronologisch rückwärts, weil die Kuratoren anlässlich seines 500. Todestages in erster Linie seine allumfassende Aktivität der letzten zwölf Jahre in Rom herausstellen wollten. Doch dieser Tage erhält das auch eine andere Bedeutung, die vorher nicht zu ahnen war. Es passt zur in Italien besonders dramatischen Coronavirus-Krise, dass die Schau mit dem traurigen Ereignis von Raffaels Tod beginnt. Die oben beschriebene Szene am Sterbebett ist das Eröffnungsbild.
Gleich anfangs auch ein weiteres Historien-Gemälde, nämlich die »Beisetzung von Raffael« von Pietro Vanni, entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Auf den Schultern getragen, begleitet von einer großen Volksmenge, wird der Tote durch Rom zum antikrömischen Pantheon gebracht, heißgeliebt von Raffael und von ihm als letzte Ruhestätte gewünscht. Sein Grabmal ist in den »Scuderie« mittels Computertechnik haargenau nachgebaut worden, mitsamt der lateinischen Inschrift »Ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci, rerum magna parens et moriente mori« (sinngemäß »Hier ist jener Raffael, von dem die große Mutter der Dinge [= die Natur] fürchtete, übertroffen zu werden, solange er lebte, und zu sterben, als er starb«). Sein Leichnam wurde in einen antiken Sarkophag gelegt. Auf dem Altar darüber befindet sich die Marmorstatue von Lorenzo Lotto. Sie wird bis heute als »Madonna del Sasso« verehrt.
Natürlich wurde, in Zeiten von Sperrzonen und Ausgangsverboten, auch die eigentlich bis 2. Juni angesetzte Ausstellung ein Corona-Opfer. »Fürs Publikum geschlossen, bis hin zu neuen Regierungsvorschriften«, so teilten die »Scuderie« am 8. März mit, drei Tage nach ihrer Eröffnung. Seitdem liegt die Schau im Dornröschenschlaf. Lichtempfindliche Zeichnungen wurden zur Schonung eilends dunkel verhüllt, in der Erwartung, in besseren Zeiten dem Blick der Besucher wieder freigegeben werden zu können. Wann wird das sein? Zurzeit ist das noch nicht absehbar. Raffael-Experten und Bewunderer hoffen, dass die Schau dann womöglich verlängert werden kann. In der Zwischenzeit gibt es über www.scuderiequirinale.it und die sozialen Medien zumindest virtuelle Trostpflaster: Fotos und Video-Erzählungen mit Einblick in die Ausstellung, auch Hintergründe zur dreijährigen Vorbereitungszeit, Einzelheiten und Kurioses zu dem Renaissance-Genie.
Schon Monate vorher war sie als »Ausstellung der Superlative« gerühmt worden: Raffael im 500. Todesjahr in Rom, mit über 200 Werken aus 52 renommierten Museen die bedeutendste und größte, die es je gegeben hat. Selbst Queen Elizabeth steuerte etliche Raffael-Studien aus ihrem Besitz bei. An die 70.000 Karten waren schon im Vorverkauf weggegangen. Das alles schuf eine gespannte Erwartungshaltung, die nicht enttäuscht wurde. Diejenigen, die die Schau in den ersten Tagen noch sehen konnten, waren begeistert. Auch die Presse zeigte sich beeindruckt. »Nie zuvor in der Geschichte war es möglich, so viele Raffael-Meisterwerke auf einmal bewundern zu können«: der deutsche Kunsthistoriker Eike Schmidt, Direktor der Uffizien in Florenz und Mitveranstalter in Rom, ist stolz auf seine Mitarbeit in dreijähriger Vorbereitung der Kunstschau. Jedes vierte der ausgestellten Werke schickte er in die »Scuderie«. Bei der Vernissage für die Presse am Vortag der Eröffnung zeichnete sich dann zwar schon ab, dass wegen des Corona-Virus zumindest weniger Touristen nach Rom kommen würden. Schmidt machte aus der Not eine Tugend: »Es müssen ja nicht immer Rekordzahlen und zuviel Gedränge sein. So kann der Ausstellungsbesucher zu seinem ganz persönlichen meditativen Raffael-Erlebnis finden.« Dann überschlugen sich die Ereignisse. Schließung, Sperrzonen, starke Einschränkungen für alle Bürger.
Vorläufig also gibt es ein »meditatives Raffael-Erlebnis« nur am Computer oder i-Pad. Es ist ein Einblick in die Ausstellung, ersetzt aber natürlich nicht den persönlichen Besuch. Zahlreiche Schriftstücke, Studien, Zeichnungen und Originalbriefe demonstrieren in der Schau Raffaels leidenschaftliches Engagement für die Wiedergeburt der Antike. Diese zu erforschen und der Nachwelt zu erhalten empfahl er 1519 in einem Brief dringend dem Papst, konnte aber wegen seines frühen Todes selbst nicht mehr viel dazu beitragen. So werden nicht nur Gemälde, Freskenstudien und Skizzen Raffaels gezeigt. Seine Werke sind durch weitere Ausstellungsstücke wie Skulpturen, antike Artefakte, Dokumente und alte Bücher in den zeitgeschichtlichen Kontext gestellt. Die Untersuchungen im Vorfeld der Ausstellung – derzeit auch digital illustriert – entkräfteten auch Behauptungen, denen zufolge er viele seiner Werke letztlich Schülern und Mitarbeitern in seinem römischen Atelier überlassen habe. Hingegen beweisen seine ausgestellten Entwürfe, auch Figurenstudien und Zeichnungen nach Ansicht von Fachleuten eindeutig, dass Raffael bis zuletzt die Oberaufsicht an seinen Werken behielt.
Gleich in den ersten Sälen sein spätes Selbstporträt mit Freund aus dem Louvre. Ferner das frisch restaurierte kostbare »Porträt von Papst Leo X. mit den Kardinälen Julius de’ Medici und Luigi de’ Rossi« – alle drei miteinander verwandt – aus den Uffizien, um dessen Verleihung nach Rom es in Florenz Experten-Streit gab. Erst ab Saal vier kommt Raffael, der Ästhet, der die Welt verschönern wollte, mit Heiligendarstellungen und Bibelszenen zur Geltung. Vor allem aber als der Maler einmaliger Madonnen. Es fehlt in der Ausstellung die berühmte Sixtinische Madonna aus Dresden. Vertreten sind die hingebungsvolle »Rosenmadonna« (1518-1520), im Prado in Madrid zuhause, auch die »Madonna der göttlichen Liebe« (1516) aus Neapel – alle entstanden einst in Rom. Im selben Saal »Die Visitation« (1516-17) aus Madrid mit der Begegnung zwischen der schwangeren Gottesmutter und ihrer Kusine Elisabeth, die Johannes den Täufer erwartet. Maria reicht ihr die Hand – eine Geste, die es in Corona-Zeiten nicht mehr gibt.
Auch ein Stockwerk höher weitere Mariendarstellungen. Die wunderschöne »Alba Madonna« (1510), sitzende Maria mit Jesus und Johannes dem Täufer als Kind, ist erstmals von der National Gallery of Art von Washington nach Europa ausgeliehen worden. Natürlich gehört auch die innige »Madonna mit Kind« (Madonna Tempi, 1507-08) aus der Alten Pinakothek München dazu, ebenso die »Madonna del Granduca« (1506-07) aus den Uffizien in Florenz. Im zarten Alter von acht Jahren verlor Raffael seine Mutter. Vielleicht war auch das ein Grund, warum er über Jahrzehnte hinweg immer wieder dieses Mutter- und Kind-Motiv malte.
Er war der bevorzugte Künstler zweier Päpste, auch das eine Seltenheit. Erst von Julius II., dann von Leo X. – erstmals sind seine Porträts der beiden Kirchenoberhäupter gemeinsam ausgestellt. Die Vatikanischen Museen verliehen an die »Scuderie« einen der berühmten zehn Wandteppiche mit Apostelgeschichte, deren Vorlagen Raffael mit Kartonzeichnungen kreiert hatte. Zwei Frauenporträts im zweiten Stock waren an den ersten Besuchertagen stetig umlagert. Die »Dame mit Schleier« (1512-1513) aus den Uffizien und die »Fornarina« als Venus (1519-1520) aus Roms Nationalgalerie für antike Kunst hängen nicht zufällig einander gegenüber. Vielleicht ist es dieselbe Frau, die der Meister da gemalt hat, wird vermutet, ist aber nicht dokumentiert. Tatsächlich ähneln sich die Gesichter. Die »Fornarina«, Bäckerstochter aus der Altstadt Trastevere, trägt ein Armband mit Raffael-Widmung und gilt als seine späte Geliebte. Raffael war unverheiratet, als er starb.
Christa Langen-Peduto