FRAUEN KIRCHE WELT

Im Vordergrund

Theologie und Gerechtigkeit

 Teologia e giustizia  DCM-012
30. Dezember 2021

Anne Burghardt: Meine Ziele mit dem Lutherischen Weltbund


Mein Heimatland, Estland, ist bekannt als einer der laizistischsten Staaten der Welt, insofern ist eine der Gaben, die ich mit Sicherheit einbringen werde, die Erfahrung, den Menschen in laizistischen Gesellschaften das Wort Gottes zu bringen. Ich bin 1975 zur Welt gekommen, unter der sowjetischen Besatzung, und ich bin in einem laisierten familiären Umfeld aufgewachsen. Meine Großeltern waren aktive Mitglieder der Lutherischen Kirche gewesen; 1949 wurde meine Großmutter zusammen mit meinem Vater und meiner Tante nach Sibirien deportiert. Wie so viele, die diese Art von Erfahrung gemacht haben, zögerten meine Großeltern, ihre Kinder aktiv in das Leben der Kirche mit einzubeziehen, weil sie sich Sorgen machten im Hinblick auf die Folgen, die das in einem aggressiv atheistischen Staat hätte nach sich ziehen können.

Einladungen und gegangene Wege

Was mich auf den Weg zur Ordination brachte, war die Einladung zur Konfirmation eines Freundes aus dem Gymnasium – ein Weg, an den ich nur mit Mühe geglaubt hätte, wenn ihn mir jemand vor dreißig Jahren vorgeschlagen hätte! Meine Schule war eine der wenigen, die zu der Zeit Religionsunterricht anboten, und die Diskussionen mit meinen Klassenkameraden haben einen Funken in mir angefacht.  Alle waren auf der Suche nach einer Identität, sei es auf nationaler oder auf persönlicher Ebene, und ich fing an, mich immer mehr für religiöse Fragen zu interessieren.

Wenn ich auf meinen Glaubensweg zurückschaue, würde ich sagen, dass manche Menschen einen natürlichen Weg des Wachstums in einer traditionellen christlichen Familie durchlaufen. Jemand erlebt auch eine plötzliche Bekehrung, wie der Apostel Paulus. Und dann gibt es noch einen weiteren Weg, jenen, den ich gegangen bin, ein langsames, allmähliches Wachstum dank vieler Fragen, einen Weg, auf dem man Schritt für Schritt vorangeht und dabei immer stärker im Glauben wurzelt. Ich bin 2004, zehn Jahr nach jener Einladung des Freundes aus der Gymnasialzeit, im der Jungfrau Maria geweihten Dom von Tallin ordiniert worden, da ich den Wunsch verspürt hatte, der Kirche mit all den Gaben, die ich empfangen hatte, zu dienen.

Ökumenismus und Ausbildung

Zwischenzeitlich hatte ich an der alten Universität von Tartu [historischer Name: Dorpat] Theologie studiert und auch Zeit in Berlin und in Bayern verbracht, wo ich meine Promotion in orthodoxer Liturgiewissenschaft vorbereitete. Ich hatte die Pfarr-Ausbildung absolviert und am Theologischen Institut in Tallin gelehrt, das auch einen Lehrstuhl in orthodoxer Theologie hat: ein seltenes Beispiel für hochrangige ökumenische Zusammenarbeit an einer akademischen kirchlichen Einrichtung. Angesichts meines Interesses für die orthodoxe Welt wurde ich Mitglied der ersten Kommission für den lutherisch-orthodoxen Dialog in Estland und war Mitglied der weltweiten gemeinsamen lutherisch-orthodoxen Kommission. Dann habe ich fünf Jahre lang als Sekretärin für die ökumenischen Beziehungen im Hauptquartier des Lutherischen Weltbundes in Genf gearbeitet und war für den Dialog mit den Anglikanern und den Mennoniten zuständig, so wie später für jenen mit den orthodoxen Christen und den Pfingstkirchlern.

In dieser Zeit habe ich bei den Vorbereitungen für die 500-Jahr-Feier der Reformation geholfen, habe Papst Franziskus an der Seite lutherischer Kirchenoberhäupter in der schwedischen Stadt Lund beten sehen, wo 1947 der Lutherische Weltbund gegründet worden war. Meines Erachtens hat sich der Lutherische Weltbund, auch wenn er eine konfessionelle Gemeinschaft von Kirchen ist, immer sehr für die Einheit der Christen eingesetzt, und seine Verfassung ist stark beeinflusst von der größten ökumenischen Bewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Jede christliche Gemeinschaft bringt ihre eigenen besonderen Gaben in die Weltkirche ein, und so leistet auch unsere lutherische Tradition ihren Beitrag durch die Betonung der zentralen Bedeutung der an keine Bedingungen geknüpften Gnade Gottes und der daraus erwachsenen Freiheit.

Eine weitere Charakteristik der Reformatoren war die Bedeutung, die der Erziehung für die Verbreitung des Evangeliums und für die Ermutigung zu kritischem Denken beigemessen wurde; das sind auch in meinem Verständnis des Auftrags der Kirche in der zeitgenössischen Welt zentrale Prinzipien. Eine der wichtigsten Neuerungen der Zeit, in der ich für die Entwicklung zuständige Direktorin des Theologischen Instituts in Tallin war, war die Einführung eines Masterstudienganges in »Studien zur christlichen Kultur«. Der Kurs war als »akademische Mission« für diejenigen gedacht, die in der säkularen Welt arbeiten, aber mehr über ihre christliche Geschichte und Tradition wissen wollten.

Kritisches Denken, um der Polarisierung entgegenzuwirken

Dieses Programm hat großen Erfolg gehabt, es hat auf dem Erbe des Theologischen Instituts aufgebaut, das während der ganzen Sowjetzeit geöffnet geblieben war. In jenen Jahren hat das Institut eine akademische Ausbildung gewährleistet, die dafür gesorgt hat, dass die Pastoren darauf vorbereitet waren, differenziert und nicht nur in Schwarzweiß zu denken. Während sich viele Gesellschaften heute mit einer zunehmenden Polarisierung auseinandersetzen müssen, ist es wesentlich, dass die Kirche kein schwarz-weißes Paradigma unterstützt, sondern dass sie gerade eine differenziertere Denkweise widerspiegelt. Eines meiner Ziele besteht darin, das Netzwerk der theologischen Erziehung und Ausbildung des Lutherischen Weltbundes zu stärken und jenen Studenten, die keinen Zugang zu Ressourcen und zur Erziehung zu kritischem Denken haben, in großem Umfang Materialien zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise hoffe ich, wenigstens zum Teil meine Erfahrung in Forschung und Ausbildung in verschiedenen Bereichen mit anderen teilen zu können, einschließlich der Konfliktlösung, dem psychologischen Beistand im Bereich des HIV sowie der Entwicklung der Gemeinschaften in ländlichen Gebieten.

Ein weiteres Ziel, das ich mir gesetzt habe, ist eine Ausweitung der theologischen Debatte über das lutherische Verständnis der Ordination, um jene Kirchen zu unterstützen, die sich in Richtung auch der Frauenordination und der Zulassung von Frauen auch in Führungspositionen bewegen. Als erste Frau an der Spitze des Lutherischen Weltbundes denke ich, dass es in vielen Gegenden und in vielen unserer Kirchen Frauen gibt, die sich durch mein Beispiel ermutigt fühlen. In Estland sind die ersten Frauen vor über fünfzig Jahren als Pastorinnen ordiniert worden, aber ich glaube, dass meine Ernennung einen historischen Augenblick für unsere Kirche und für unsere Region darstellt. Zugleich erwarte ich aber voller Ungeduld den Tag, an dem die Geschlechtszugehörigkeit kein Thema in der Debatte über Führungspositionen in unseren Kirchen oder in den Gesellschaften mehr sein wird.

Theologie, Mission und Gerechtigkeit

Eine der wichtigsten Aufgaben, denen ich mich als neue Generalsekretärin stellen muss, ist die Leitung der Vorbereitungen für die nächste Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, die im September 2023 in Krakau stattfinden soll und sich mit dem Thema »Ein Leib, Ein Geist, Eine Hoffnung« auseinandersetzen wird.  Neben der theologischen und ökumenischen Arbeit muss auch eine Leitlinie für die Wohlfahrts- und Entwicklungsarbeit der Kirche, bekannt als LWF World Service, erarbeitet werden. Unser Welt-Dienst, der in 27 Ländern, meist an isolierten und nur schwer zugänglichen Orten, wirkt und arbeitet, ist bekannt für seine professionelle humanitäre Arbeit, die eine Verbindung zwischen den Ortsgemeinden und dem internationalen Schutz der Gerechtigkeit, des Friedens und der Menschenwürde darstellt, vor allem auch für die Schwächsten. Wir sind seit vielen Jahren einer der wichtigsten im Einsatz befindlichen konfessionellen Partner des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen und arbeiten in engem Kontakt zu verschiedenen ökumenischen Partnern, darunter Caritas Internationalis und weiteren konfessionellen Gruppen wie dem Islamic World Relief. Die Flüchtlingssituation, die bereits nach dem Zweiten Weltkrieg den Gründern des Lutherischen Weltbundes Sorgen machte, stellt auch heute noch eine unserer größten Sorgen bei der Arbeit mit verletzlichen Gemeinschaften dar. Derzeit gibt es weltweit über 80 Millionen Binnenvertriebene oder solche, die gezwungen waren, aufgrund von Kriegen, Armut, Verfolgung oder wegen der Klimakrise aus ihrem Land zu fliehen. Zugleich konstatieren wir die Entstehung totalitärer Regime, Langsamkeit beim Ergreifen von Maßnahmen seitens der Staaten, die dazu dienen, die Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen und Widerwilligkeit, wenn es um Menschenrechte, vor allem um die Rechte der Frauen, geht. Eine weitere Sorge ist die anhaltende weltweite Ungleichheit beim Zugang zu Impfstoffen gegen Covid, sowie die Tatsache, dass die Impfungen selbst in zunehmendem Maße zu einer Waffe eines mit Desinformation geführten Krieges werden, was sich noch zur existierenden Polarisierung und den Verschwörungstheorien hinzugesellt. Als Lutherischer Weltbund setzen wir uns weiterhin für gerechte und langfristige Lösungen ein, die mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung in Einklang stehen und die Ursachen der Armut bekämpfen, damit alle Menschen ihre Rechte wahrnehmen und ein Leben in Würde führen können.

Als jemand, der zu einer Zeit großgeworden ist, in der die Rechte und die Würde regelmäßig vom Sowjetregime mit Füßen getreten wurde, denke ich, dass unsere Kirchen eine wesentliche Rolle dabei spielen müssen, in der Öffentlichkeit für diese christlichen Werte einzutreten. In einer immer stärker fragmentierten Welt sind wir aufgerufen, den Willen Gottes in komplizierten Situationen zu erkennen und Akteure des positiven Wandels und der Versöhnung zu sein. Als Christen müssen wir die ersten sein, die den Worten Taten folgen lassen, um dem Willen Christi zu entsprechen, der Einheit und Heilung für unsere kaputte Welt wünscht.

Von Anne Burghardt

 

Die allererste Generalsekretärin


Pfarrerin Anne Burghardt von der evangelisch-lutherischen Kirche Estlands ist die allererste Frau sowie die erste Person der Region Mittel-und Osteuropa, die zur Generalsekretärin des Lutherischen Weltbundes gewählt wurde. Die Theologin und Pastorin hat ihr Mandat im November 2021 angetreten, als Nachfolgerin von Pfarrer Martin Junge, der dem aus 148 lutherischen Kirchen bestehenden Weltbund seit 2010 vorgestanden hatte. Burghardt, die 46 Jahre alt, verheiratet und die Mutter zweier leiblicher Kinder sowie eines adoptierten palästinensischen Flüchtlings ist, denkt über den Weg zu einer Führungsposition und die besonderen Gaben nach, die sie in ihre Arbeit einbringen will.