· Vatikanstadt ·

Generalaudienz auf dem Petersplatz am 24. April

Grundlage und Seele des sittlichen Handelns des Christen

 Grundlage und Seele  des sittlichen Handelns des Christen  TED-018
03. Mai 2024

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

In den vergangenen Wochen haben wir über die Kardinaltugenden nachgedacht: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Das sind die vier Kardinaltugenden. Wie wir mehrfach hervorgehoben haben, gehören diese vier Tugenden einer sehr alten Weisheit an, die auch dem Christentum vorausgeht. Schon vor Christus verkündete man die Aufrichtigkeit als Bürgerpflicht, die Weisheit als Richtschnur für das Handeln, den Mut als Grundzutat für ein Leben, das zum Guten strebt, das Maßhalten als notwendige Maßnahme, um nicht von Schrankenlosigkeit mitgerissen zu werden. Dieses uralte Erbe, ein Erbe der Menschheit, ist vom Christentum nicht ersetzt, sondern schärfer in den Blick genommen, wertgeschätzt, geläutert und in den Glauben eingebunden worden.

Das Gute suchen

Es gibt also im Herzen jeden Mannes und jeder Frau die Fähigkeit, das Gute zu suchen. Der Heilige Geist ist uns geschenkt, damit jeder, der ihn annimmt, das Gute klar vom Bösen unterscheiden, die Kraft haben kann, dem Guten treu zu sein und das Böse zu meiden und dadurch zur vollen Selbstverwirklichung zu gelangen.

Aber auf dem Weg, den wir alle zur Fülle des Lebens gehen, die zur Bestimmung eines jeden Menschen gehört – die Bestimmung eines jeden Menschen ist die Fülle, vom Leben erfüllt zu sein –, genießt der Christ den besonderen Beistand des Heiligen Geistes, des Geistes Jesu. Er wird verwirklicht durch die Gabe weiterer dreier Tugenden, die rein christlich sind und die in den Schriften des Neuen Testaments oft zusammen genannt werden. Diese Grundhaltungen, die das Leben des Christen auszeichnen, sind drei Tugenden, die wir jetzt zusammen sprechen werden: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe. Sagen wir es zusammen: [zusammen] der Glaube, die Hoffnung… Ich höre nichts, lauter! [zusammen] Der Glaube, die Hoffnung und die Liebe. Gut gemacht! Die christlichen Schriftsteller haben sie schon früh als »göttliche« Tugenden bezeichnet, da man sie in der Beziehung zu Gott empfängt und lebt, um sie von den anderen vier zu unterscheiden, die als »Kardinaltugenden« bezeichnet werden, da sie die »Kardinalpunkte« eines guten Lebens bezeichnen. Diese drei werden bei der Taufe empfangen und kommen vom Heiligen Geist. Die einen und die anderen, sowohl die göttlichen Tugenden als auch die Kardinaltugenden, haben so, in vielen systematischen Abhandlungen nebeneinandergestellt, eine wunderbare Siebenergruppe gebildet, die oft in Gegensatz zu den sieben Todsünden gestellt wird. So definiert der Katechismus der Katholischen Kirche das Wirken der göttlichen Tugenden: Sie »sind Grundlage, Seele und Kennzeichen des sittlichen Handelns des Christen. Sie gestalten und beleben alle sittlichen Tugenden. Sie werden von Gott in die Seele der Gläubigen eingegossen, um sie fähig zu machen, als seine Kinder zu handeln und das ewige Leben zu verdienen. Sie sind das Unterpfand dafür, dass der Heilige Geist in den menschlichen Fähigkeiten wirkt und gegenwärtig ist« (Nr. 1813).

Der Christ ist nie allein

Während die Gefahr der Kardinaltugenden darin besteht, Männer und Frauen hervorzubringen, die heroisch Gutes tun, aber alles in allem allein, isoliert sind, so ist das große Geschenk der göttlichen Tugenden das im Heiligen Geist gelebte Dasein. Der Christ ist nie allein. Er tut Gutes nicht durch eine titanische Anstrengung persönlichen Einsatzes, sondern weil er als demütiger Jünger hinter dem Meister Jesus hergeht. Er geht auf dem Weg voran. Der Christ hat die göttlichen Tugenden, die das große Gegenmittel zur Selbstgenügsamkeit sind. Wie oft laufen gewisse sittlich untadelige Männer und Frauen Gefahr, in den Augen derer, die sie kennen, anmaßend und arrogant zu werden! Das ist eine Gefahr, vor der das Evangelium uns dort eindringlich warnt, wenn Jesus die Jünger mahnt: »Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan« (Lk 17,10). Der Hochmut ist ein Gift, er ist ein mächtiges Gift: Es genügt ein Tropfen davon, um ein ganzes Leben zu verderben, das auf das Gute ausgerichtet ist. Ein Mensch kann eine Menge gute Werke vollbracht, kann Anerkennungen und Lobpreis geerntet haben, aber wenn er all das nur für sich selbst getan hat, um sich selbst zu verherrlichen, kann er sich dann noch als tugendhafter Mensch bezeichnen? Nein!

Das Gute ist nicht nur ein Ziel, sondern auch eine Weise. Das Gute braucht viel Diskretion, viel Freundlichkeit. Das Gute muss sich vor allem jener manchmal zu sperrigen Präsenz entledigen, die unser Ich ist. Wenn unser »Ich« im Mittelpunkt von allem steht, dann zerstört man alles. Wenn wir alle Taten, die wir im Leben vollbringen, nur für uns selbst vollbringen, ist diese Motivation dann wirklich so wichtig? Das arme »Ich« nimmt alles in Beschlag, und so entsteht der Hochmut.

Um all diese Situationen, die manchmal erbärmlich werden, zu korrigieren, sind die göttlichen Tugenden eine große Hilfe. Sie sind es vor allem dann, wenn man zu Fall kommt, denn auch jene, die gute sittliche Vorsätze haben, kommen manchmal zu Fall. Wir alle kommen zu Fall, im Leben, weil wir alle Sünder sind. Auch wer sich täglich in der Tugend übt, macht manchmal Fehler. Wir alle machen Fehler im Leben: Nicht immer ist der Verstand klar, nicht immer ist der Wille fest, nicht immer werden die Leidenschaften beherrscht, nicht immer überwindet der Mut die Angst. Wenn wir aber das Herz für den Heiligen Geist – den inneren Lehrmeister – öffnen, dann belebt er in uns die göttlichen Tugenden neu: Dann öffnet Gott, wenn wir das Vertrauen verloren haben, uns wieder für den Glauben – mit der Kraft des Heiligen Geistes, wenn wir das Vertrauen verloren
haben, öffnet Gott uns wieder für den Glauben –; wenn wir entmutigt sind, weckt Gott in uns wieder die Hoffnung; und wenn unser Herz verhärtet ist, macht Gott es weich mit seiner Liebe. Danke.

(Orig. ital. in O.R. 24.4.2024)